Digitale Edition jüdischer Bittbriefe an den Papst im Zweiten Weltkrieg 

by | 10. Mrz 2022 | Sponsoren | 0 comments

Ein Team um Kirchenhistoriker Prof. Dr. Hubert Wolf systematisiert in den nächsten Jahren eine bisher unbekannte Sammlung jüdischer Hilfegesuche aus den vatikanischen Archiven und bereitet sie in einer digitalen Edition für die Öffentlichkeit auf.

Am 11. November 1940 schreibt die Jüdin Hilde Schmahl an den damaligen Papst, Pius XII.: Heiliger Vater! Da eure Heiligkeit große Güte und Hilfsbereitschaft für alle von Leid getroffenen Menschen bekannt ist, wage ich es eure Heiligkeit um Hilfe für mich und meine kleine Familie zu bitten.

Ein Blick in den Cortile del Belvedere mit dem Eingang zu Vatikanischem Archiv und Bibliothek.
© SMNKG Matthias Daufratshofer

So oder ähnlich beginnen viele der Schreiben, die tausende zur Zeit des NS-Regimes verfolgte Menschen an die katholische Kirche und ihr Oberhaupt Papst Pius XII. richteten. Flehend, bittend und dramatisch die Situationen ihrer Familien schildernd, wandten sie sich in schätzungsweise 15.000 Bittschreiben in letzter Hoffnung an die Kirche und baten um finanzielle oder anderweitige Unterstützung bei der Flucht aus Deutschland.

Seitdem befinden sich in den Akten des Pontifikats von Pius XII. die häufig letzten handgeschriebenen Briefe und autobiografischen Skizzen jüdischer Menschen vor ihrer Ermordung. Ein Team um Kirchenhistoriker Prof. Dr. Hubert Wolf von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster beginnt jetzt – mehr als 75 Jahre später – damit, diese einzigartige Sammlung in den vatikanischen Archiven systematisch zu erfassen und in einer digitalen Edition für die Öffentlichkeit aufzubereiten. Möglich wurde das von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) mit zwei Millionen Euro geförderte Großprojekt erst durch die lange erwartete Öffnung der Bestände aus dem Pontifikat Pius’ XII. am 2. März 2020.

Bereits erste Sichtungen der etwa 400.000 Archivschachteln machten klar, dass das Hauptziel des Projektes sein muss, die Lebensgeschichten der Verfolgten aufzuarbeiten und öffentlich zu machen. Hilde Schmahl schildert im weiteren Verlauf ihres Briefes etwa ihre bisherige Flucht von Wien nach Neapel. Sie berichtet von den vergeblichen Bemühungen um ein Visum für die Ausreise in die USA und ihre finanzielle Notlage aufgrund der langen Emigration und der Entlassung ihres Mannes. Indem die Forschenden Dokumente aus den Archiven zusammentragen, Schicksale rekonstruieren und digital aufbereiten, eröffnen sie neue Perspektiven auf die damalige Zeit. Zahlreiche Verfolgte wie Hilde Schmahl, von denen häufig kaum etwas bekannt war, bekommen so wieder eine Stimme.

Die Bittschreiben und die sie begleitende Korrespondenz aus den vatikanischen Archiven werden in einer kritischen Online-Edition aufbereitet. Als Ausgangspunkt dienen die XML-Datenbank aus www.pacelli-edition.de und die Open-Source-Software „ediarum“ der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Beide Anwendungen müssen zusammengeführt und an die individuellen Bedürfnisse des Vorhabens angepasst werden. Auf Basis einer exist-Datenbank für Dokumente, Personen und Schlagwörter wird eine Projekthomepage entwickelt, die unter www.askingthepopeforhelp.de erreichbar sein wird. Die internationale Sichtbarkeit des Projekts wird erhöht, indem das Angebot ins Englische übersetzt wird.

Weitere Module sollen im Lauf der Zeit integriert werden, vor allem, um den Abgleich mit bereits bestehenden Datenbanken zu Holocaust-Opfern und -Überlebenden etwa auf den Seiten von Yad Vashem, des United States Holocaust Memorial and Museum in Washington, D.C oder Arolsen zu automatisieren. Geplant ist auch ein Login-Bereich für Citizen Scientists, in dem die Kommunikation von Bürgerinnen und Bürgern mit dem Projekt erleichtert wird. Schließlich kann die Plattform um Lehr- und Lernangebote für Schülerinnen und Schüler oder die Erwachsenenbildung sowie eine digitale Ausstellung ergänzt werden. Die digitalen Maßnahmen schaffen so eine deutlich größere Reichweite für die Lebensgeschichten der Opfer und helfen die Erinnerung an Menschen wie Hilde Schmahl wachzuhalten und den Schrecken der NS-Zeit begreifen zu lassen.

Diese schließt ihren Brief an den Papst mit den Worten: Meine Bitte an den Heiligen Vater geht dahin, falls auch für uns als Juden eine Möglichkeit besteht in Amerika, Brasilien oder irgendwo wieder eine neue Heimat und bescheidene Existenzmöglichkeit zu finden, sich gütigst unserer anzunehmen. Ihr Anliegen wird in der zweiten Dezemberhälfte im Staatssekretariat bearbeitet, das nach mehr Informationen verlangt. Schließlich wird der Vorgang an die Pallottiner weitergeleitet, die vielen verfolgten Juden Hilfe geleistet haben. Dort verliert sich die Spur aufgrund fehlender Dokumente. Erst 1946 gibt es das nächste Lebenszeichen: Hilde Schmahl und ihre Tochter hatten im Gegensatz zu Millionen anderen Verfolgten Glück und überlebten den Krieg in Italien. Im November 1950 ging es für beide auf ein Schiff in Bremerhaven – für den langersehnten Neuanfang in New York.


Das Bittschreiben von Hilde Schmahl vom 11. November 1940. © 2022 Archivio Apostolico Vaticano, Segr. Stato, Commissione Soccorsi 296, fasc. 120, fol. 46r. Per concessione dell’Archivio Apostolico Vaticano, ogni diritto riservato

 

 

 

 

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